Weil wegen Baum!

Weil wegen Baum!

Kürzlich gedankenversonnen im bronzenen Schimmer der spätherbstlichen Abendsonne an den nunmehr kühlen und tristen Ufern des Mains entlangschlendernd durften meine kindlichen Augen einen wahrlich knorrigen, ja geradezu uralten Baum schauen. Ein wahrer Hüne seiner Gattung; stiller Wächter der Uferböschung; stramm und mächtig mit weit ausgreifenden, zum kichernden Kraxeln einladenden Ästen und einem schaurig anmutenden Spalt vergangenen Blitzeinschlags im Stamme. Ergriffen innehaltend, den Blick gen Baum gerichtet, versank ich augenblicklich in den farbenfrohen Strudeln meiner beunruhigend kre-a(k)tiven Fantasie.

Entrückten Blickes in die Ferne guckend ward ich in der Folge von jungen Erwachsenen gleichen Alters, welche starr voranblickend schnellen Schrittes gehetzt an eben jenem geduldigen, womöglich jahrhundertealten Gehölz in der kärglichen Hoffnung, der Zeit, nein, dem eigenen Leben hinterherzuhetzen, überholt worden. Knilchen gleich vollbrachten sie’s gekonnt, jene massive Ansammlung künftig wertvollen Mobiliarholzes gekonnt auszublenden, geradezu zu ignorieren. Oder nahmen ihn, jenen Gigant, gar nicht erst bewusst wahr. Wofür denn auch, ‘s ist doch nur ein oller Baum am Wegesrande, bestenfalls billiges Material der höfischen Zündholzmanufaktur Gebrüder Schwefel & Hölzchen.

Doch das ist er eben nicht. Mir eröffneten sich just im selben Moment mannigfaltige Epen ob dieses Baumes. Welch blutige Schlachten und wüste Tumulte, zerrende Fluten und hitzige Dürren dieser Baum bereits miterlebt haben musste. Knirpse tollten unter seiner Schatten spendenden Krone, junge Pärchen vollzogen auf den wohlig weich bemoosten Wurzeln seines Unterbaus ekstatische Liebesakte, Bauern und Soldaten ließen zufriedener Miene Wasser und faltige Greise gedachten an der knorrigen Borke lehnend schwelgend ihres nun fast vollends verronnenen Lebens. Welche abendfüllenden Geschichten trüge er wohl vor, vermöchte er nur zu sprechen? Und weiter; jener Baum böte dem Neugierigen noch so viel mehr als rein imaginäres Geschichtswerk dar. Er diente verspielten Kinderindianern als idealer Ausguck gen feindliche Stammesangehörige. Als luftiges Refugium zur heimeligen Flucht vor fiktiven, brummigen Bären oder im Rahmen des immer seltener anzutreffenden Versteckspiels.

Und dann erst der große, von außen kaum ersichtliche Spalt; einst unter der donnernden Wucht eines grellen, brüllend heißen Blitzes geborsten. Ein gar meisterliches Depot wertvoller Schätze – oder geheimer Agententelefone. Verschwörerische Basis mystischer Detektivklubs, ausgerüstet mit massig laienhaften Micky Maus-Magazin Detektiv-Gadgets. Schummriges Portal ins ferne, je-älter-Man(n)-wird-desto-vergessenere Reich der Magie und Fabelwesen. Gegebenenfalls wurde auf den behäbigen Zweigen des Baumes gar die sagenumwobene, 9-teilige Schwarz-weiß-Stummfilm-Dokumentation “Das Liebesleben der Blattläuse” von Professor Dr. Kunibert Laberquirl aus Niedermikronesien mit französischem Untertitel gedreht.

Mitunter liegen die Wurzeln der Wurzeln des Baumes gar im versunkenen Atlantis; er ward dort dann einst als gebrechlicher Samen zum Erhalt der lokalen Artenvielfalt vor den unaufhaltsam hereinbrechenden Sturzfluten grob seines mütterlichen Heimatbodens entrissen und bar jeglicher Überlegung ob der Folgen dieses abrupten Unternehmens in einem kleinen, perfide ausgearbeiteten Schwimmbehältnis uns unbekannter Technologie auf dem Atlantik gen ungewisse Zukunft geschickt worden. Über viele Jahre hinweg trieb er einsam, aber geschützt vor Wind und Wetter auf den schier unendlich anmutenden Ozeanen, bis er schließlich an die sandigen, heißen Küsten Nordafrikas gespült wurde – und dort erst einmal für Jahrtausende herumstrandete. Wie Schmirgelpapier fraß sich in der Folge nadelspitzer, staubiger Flugsand über Äonen hinweg durch die geschützte Kapsel und legte das Samenkorn letztlich vollkommen frei. Gleich einer verbrauchten und anschließend links liegen gelassenen Nutte lag er dann nackt und ungeschützt auf dem sprichwörtlichen Präsentierteller. Eine senile, ortskundige Küstenkröte mit knurrendem Magen erbarmte sich daher dieses feinen Leckerbissens und schlang ihn ohne zu blinzeln herab – um nur einige Augenblicke darauf von einem durchreisenden Storch hinfortschnabuliert zu werden. Jener aus dem Winterurlaub in exotischen Gefilden gen Mitteleuropa zurückkehrender Storch flog sodann nonstop zur in lediglich einer Hinsicht enorm weit zurückgebliebenen, heiß begehrten, ja geradezu ralligen Störchin an den nun im saftigen Gewand des Frühlings bekleideten Ufern des uns bereits bekannten Mains. Und tat zu guter Letzt das, was nahezu jeder nach einer solch strapaziösen, pausenlosen Reise tut: Erlösende Erleichterung suchen. Voilà, der Samen des eines Tages so beeindruckenden wirkenden Baumes kam endlich in seiner neuen Heimat an. Wurzelte, spross und wuchs stolz empor.

Hach ja. Lediglich ein Baum – und doch so viel mehr. Welche Anzahl mir ähnlich Gesinnter stand wohl im Laufe der Jahrhunderte, ach wo, gar Jahrzehnte bereits ebenso gedankenverloren auf eben jenem dem Baum vorgeschobenen Pfade herum, eindringlich darüber sinnierend, welche Anzahl ähnlich Gesinnter im Laufe der Jahrhunderte, ach wo, gar Jahrzehnte bereits ebenso gedankenverloren auf jenem dem Baum vorgeschobenen Pfade herumstanden? Wie schade, dass heutigentags scheinbar nur noch Wenige Zeit und Muße finden, der eigenen Fantasie wie im frühen Kindesalter mithilfe so trivial anmutender Objekte wie einem herrenlos herumstehenden Baum grenzenlos freien Lauf zu lassen.

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